Dieses Editorial schreibe ich an dem Schreibtisch meines Großvaters. Er ist wuchtig und groß und passte im Grunde nie zu meinen anderen Möbeln. Dennoch habe ich ihn durch alle Umzüge in jede Wohnung gerettet. Als er nach dem Tod des Großvaters in meinen Besitz überging, lagen darauf zwei seltsame Gegenstände, die ich zwar ziemlich hässlich fand, sie dessen ungeachtet trotzdem bis heute bewahre: ein aus Hirschgeweih geformter Briefbeschwerer mit einem kleinen Hund als Verzierung an der Spitze und ein dazu passender, überdimensional großer Brieföffner. Herzwurzeln nannte ich einmal die Verbindung zu meinen Großeltern.
Warum schreibe ich das? Vielleicht, weil man solche Herzwurzeln auch in der Literatur Hellmut Seilers findet, wie in den von Walter Fromm ausführlich besprochenen »Großvatergedichte[n]«. Gedichte, die zu dem Schwerpunkt dieses Heftes gehören, mit dem wir Hellmut Seiler zu seinem 70igsten Geburtstag sehr herzlich gratulieren.
»Verstehen lässt sich das Leben nur / rückwärts gelesen; leben aber muss man es / vorwärts. « Dieses Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, mit dem Hellmut Seiler eines dieser Großvatergedichte überschrieben hat, passt meiner Meinung nach insgesamt zu Hellmut Seilers Werk, dessen bewegter Lebenslauf zwischen Verfolgung in Rumänien unter Ceauşescu, bis zur Ausreise in die BRD, Lehrtätigkeit und zahlreichen literarischen Engagements reicht. Dabei antwortet der Autor den Zumutungen des Lebens oft mit Ironie, wie beispielsweise in dem Tatsachenbericht »Eine Wanze namens Boris. Absurditäten der Überwachung und der geheime Streudienst.«
»Seilers autofiktionales Schreiben führt dazu, dass die Gedichte eine ausgeprägt erzählerische Dimension haben«, schreibt Walter Fromm, während Anton Sterbling von »ganz neuen Wortschöpfungen, virtuosen Sprach- und Gedankensplittern wie auch erkenntnisreichen Gedankenblitzen und eigentümlich verfremdeten Sinnwelten« spricht. Dies sind nur zwei Stimmen aus der Vielzahl der Artikel, die das literarische Werk Hellmut Seilers würdigen und natürlich stehen dabei dessen facettenreiche Texte ‒ Lyrik und Prosa gleichermaßen ‒ im Vordergrund.
Anschließend nimmt uns Éva Seiler-Iszlai mit in eine sehenswerte Fotoausstellung über Indien, ein Land, das sie seit jungen Jahren fasziniert hat.
Einem weiteren Autor können wir ebenfalls zu einem runden Geburtstag gratulieren. Dietfried Zink ist 80 Jahre alt geworden, was mit vierzehn Gedichten von ihm gefeiert wird. Für Walter Fromm ist Dietfried Zink ein exemplarischer Fall für ein siebenbürgisches Dichterdasein im ausgehenden 20. Jahrhundert.
Mit Dietrich Zink eröffnen wir die Lyrikecke, in der Gerhard Eike, Regine Kress-Fricke und Widmar Puhl Gedichte beisteuern. Nicht unterschlagen werden soll dabei, dass natürlich wie in jeder Ausgabe ein Gedicht am Anfang des Heftes steht: »hochzeitsmarsch« von Emilian Galaicu-Păun, ein ins Deutsche übersetztes Gedicht, das auch die außerordentlichen Übersetzerqualitäten unseres Jubilars belegt.
So vielfältig und unterschiedlich die Sprache der Lyriker und der Lyrikerin ist, so verschieden sind die Themen der im Bücherregal vorgestellten Werke. Beginnen wir mit Frank Winter, der PH Gruners Novelle »Drei Frauen« vorstellt. Es ist keine klassische Dreiecksgeschichte, wie man sie oft liest, nein PH Gruner hat das Ensemble erweitert, denn der manchmal leicht überforderte Held Frank hat sich gleichzeitig mit drei Frauen eingelassen. Dies ist eine Geschichte, von der der Rezensent sagt, sie sei unterhaltsam und gewinnbringend!
Regine Kress-Fricke bespricht den Gedichtbildband von Dorothea Iser und Christine Ahrend »lichtwege ‒ lyrische bilder und farbige zeilen«, Texte, die die Innen- und Außenwelt des menschlichen Daseins anhand der Natur spiegeln.
Drei sehr unterschiedliche Bücher hat sich Wolfgang Schlott angesehen. Da wäre zum einen das interessante Buch »Dschangakinder« von Sigrid Katharina Eismann zu nennen, das Wolfgang Schlott als ein Potpourri von Themen und Überraschungen empfiehlt, mit poetischen und transpoetischen Texten.
Dann macht er uns mit Tatjana Kuschtewskajas, »Mein geheimes Russland« vertraut, einem Buch das bereits 2010 zum ersten Mal und nun mit Bearbeitungen neu erschienen ist. Darin erzählt die in Turkmenistan geborene und in der Ukraine aufgewachsene Autorin von russischen Menschen, deren Leben und Alltag besonders heute in den Nachrichten nicht vorkommen. Den Bogen zur Gegenwart bildet die Widmung für ihren Vater, der seine letzten beiden Jahre unter Kriegsbedingungen im Donezker Gebiet verbringen musste.
»Schleichwege zum Hass« lautet der Untertitel des dritten von Wolfgang Schlott vorgestellten Buches: Hilde Link, »Die Weltreisenden«. Einen» Oral-History-Roman« nennt die im westlichen Banat geborene Autorin, eine Ethnologin, ihr Werk. Es beschreibt ein unrühmliches Kapitel donauschwäbischer Regionalgeschichte, bei dem Hilde Link neben wissenschaftlichen Quellen auch auf Berichte von Verwandten und Landsleuten (oral-history) zurückgreifen konnte. Die »Weltreisenden« sind nämlich keine, wie der Name vermuten ließe, globalen Player, sondern nationalsozialistische Propagandisten aus Deutschland, die ihre giftigen Botschaften erfolgreich in den Dörfern des Banats verbreiten.
Abschließend entführt uns Widmar Puhl (wie immer begeistert) in den Konzertsaal, wo das SWR Symphonie Orchester in der Stuttgarter Liederhalle unter Leitung des Dirigenten Teodor Currentzis Werke von Alban Berg und die 8. Sinfonie Dimitrij Schostakowitschs darbietet. Schostakowitsch hat sein Werk als musikalische Antwort auf eine schwierige Zeit verstanden, denn es beschreibt, den deutschen Eroberungsfeldzug gegen Russland. Die schwierigen Zeiten beziehen sich auch auf Schostakowitschs ständige Angst vor Stalin. Und man kann sie auch auf heute beziehen, wenn Widmar Puhl hervorhebt, dass der Dirigent nicht weiter gehen wollte, um Angehörige und Freunde in Russland nicht in Gefahr zu bringen.
In diesem Sinne lassen Sie mich zum Schluss das bekannte, immer noch aktuelle Gedicht von Hellmut Seiler zitieren: »Beim Zahnarzt: Die Freiheit / den Mund aufzumachen / kann ich nur verwirklichen // wenn ich keine Angst habe.«
Kommen Sie gut in den Herbst
Ihre
Barbara Zeizinger
• Schwebebrücken aus Papier • Hellmut Seiler • Emilian Galaicu-Păun • Ein Gedicht für jede Jahreszeit • Georg Aescht • Anton Sterbling • Hans Bergel • Olivia Spiridon • Walter Fromm • Waldemar Fromm • Éva Seiler-Iszlai • INDIEN – Pracht und Elend · Fotoausstellung • Zum 80. Geburtstag von Dietfried Zink • Gerhard Eike • Regine Kress-Fricke • Widmar Puhl • Frank Winter • Wolfgang Schlott •
Barbara Zeizinger • Editorial / S. 5
Die Welt und ihre Dichter
- Ein Gedicht für jede Jahreszeit •
Emilian Galaicu-Păun • (hochzeitsmarsch) · von Hellmut Seiler ins Deutsch übersetztes Gedicht / S. 7 - Schwebebrücken aus Papier • Hellmut Seiler zum 70.ten •
Hellmut Seiler • Die Entdeckung der Enden · Ein Gedicht / S. 11
Georg Aescht • Ehrliches Spiel · Hellmut Seiler zum 70. / S. 12
Hellmut Seiler • Fünf Gedichte aus den 70er Jahren / S. 15
Hellmut Seiler • Flaschenpost · Prosa / S. 25
Hellmut Seiler antwortet, Klaus Hübner fragt • Schwebezustän-
dig / S. 29
Hellmut Seiler • Das Leuchtfeuer der inneren Freiheit / S. 44
Hellmut Seiler• Eine Wanze namens Boris. Absurditäten der Überwachung und der geheime Streudienst / S. 47
Hellmut Seiler • Klartext oder Schmus? · Zwielicht in einer Grauzone – Zu Securitate-Verwicklungen rumäniendeutscher Intellektueller / S. 61
Hellmut Seiler • Beim Frisör · Prosa / S. 63
Hellmut Seiler • Ein Pärchen findet zueinander / S. 65
Hellmut Seiler • Flammen der Begeisterung · Prosa / S. 66
Anton Sterbling • Hellmut Seiler – „zweiheimischer Grenzgänger“
und hintersinniger „Sprachspieler“ / S. 72
Hellmut Seiler • Neun Gedichte / S. 81
Hans Bergel • Von „kahlen Gärten“ und „Traumbrechern“ · Zu Hellmut Seilers Dieser trotzigen Ruhe Weg / S. 91
Olivia Spiridon • Das dichte Reden · Zu Hellmut Seilers Dieser trotzigen Ruhe Weg / S. 93
Waldemar Fromm • Verdichtung und Verflüchtigung im Gedicht. Über das Schreiben und das Schreibgerät bei Hellmut Seiler / S. 96
Hellmut Seiler • Sieben Gedichte / S. 99
Walter Fromm • Transsylvanischer Geschichtsstoizismus . Hellmut Seiler – der Nachdenkliche, der Bewegte, der Nüchterne / S. 107
Hellmut Seiler • Vier Gedichte / S. 118
Anton Sterbling • Zu Hellmut Seilers „Aufhebung der Schwerkraft“ / S. 122
Éva Seiler-Iszlai • INDIEN – Pracht und Elend · Einführung in die Fotoausstellung / S. 126
Éva Seiler-Iszlai • INDIEN – Pracht und Elend · Vierzehn Bilder / S. 127
Hellmut Seiler • Indischer Zyklus · Gedichte / S. 139 - Zum 80. Geburtstag von Dietfried Zink •
Dietfried Zink • Elf Gedichte / S. 144
Walter Fromm • Dietfried Zink – poetische Bilanz der vorletzten Stunde / S. 155
Gerhard Eike • Neun Gedichte / S. 169
Regine Kress-Fricke • Sechs Gedichte / S. 179
Widmar Puhl • Fünf Gedichte / S. 185
Bücherregal
Frank Winter • PH Gruner, Drei Frauen. Novelle. / S.190
Wolfgang Schlott • Tatjana Kuschtewskaja, Mein geheimes Russ-
land. / S.193
Wolfgang Schlott • Sigrid Katharina Eismann, Dschangakin-
der. / S.195
Wolfgang Schlott • Hilde Link, Die Weltreisenden.
Schleichwege zum Hass. / S.198
Regine Kress-Fricke • Dorothea Iser, lichtwege – lyrische
bilder und farbige zeilen. / S.201
Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • Musikalische Antwort auf eine schwierige Zeit: Currentzis dirigiert Alban Berg und Dmitrij Schostakowitsch. / S. 203